1. Juli 2023: Yortsayt Gedenkveranstaltung
1. Juli 2023: Yortsayt Gedenkveranstaltung

KÖFTE KOSHER Gemeinsam gegen rechte Gewalt!

Die Kontinuität rechter Gewalt ist Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte. Es vergeht kein Tag an dem Kinder, Jugendliche und Erwachsene, nicht diskriminiert, gedemütigt oder geschlagen werden. Von 1990 bis zum Jahr 2020 wurden in Deutschland an die 20.000 antisemitische, rassistische und politisch rechte Gewalttaten verübt. Das Kunstprojekt Köfte Kosher* ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, mit Jugendlichen auf diesen Zustand aufmerksam zu machen. Das Projekt möchte darüber hinaus Räume schaffen, in denen es möglich ist, sich auch über eigene Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen auzutauschen. Ein wesentliches Anliegen ist es, den Betroffenen von rechter Gewalt eine Stimme zu geben und sie im Alltag sichtbar zu machen. Zudem verfolgt das Projekt einen künstlerischen Dialog im öffentlichen Raum. Daraus ist ein Gedenkpavillon mit Portraits von Opfern rechter Gewalt entstanden. Er lädt dazu ein, VR(Gedenk)Räume zu besuchen.

Köfte Kosher

Wir Gedenken

  • Ahmet Șarlak

    Ahmet Șarlak audio-icon Created with Sketch. wurde 1983 als Sohn türkischer Gastarbeiter*innen im saarländischen Sulzbach geboren. Er absolvierte die örtliche Schule und begann danach eine Ausbildung.

    Am 9. August 2002 besuchte der 19-Jährige mit Freunden ein jährlich vor Ort stattfindendes traditionelles Volksfest. Auf diesem Fest geriet die Gruppe in eine Auseinandersetzung mit stadtbekannten Neonazis. Einer der Neonazis attackierte Ahmet Șarlak mit einem Messer, stach ihm mehrere Male in Brust und Bauch und ergriff daraufhin die Flucht. Ahmet Șarlak erlag am darauffolgenden Tag seinen Verletzungen.

    Der Täter, Carlos Neu, war kein Unbekannter im Sulzbachtal: Die Polizei hatte ihn wenige Monate zuvor verdächtigt, mit einer Gaspistole in ein überwiegend von Migrant*innen besuchtes Café geschossen zu haben. Auf der Suche nach dem Täter fand die Polizei in seiner Wohnung Waffen und Hakenkreuzfahnen. Der Neonazi, den mehrere Besucher*innen des Volksfestes eindeutig als Täter identifiziert hatten, wurde festgenommen.

    Vor Gericht erhielt der Umstand, dass es sich bei dem Täter um einen Mann mit rechtsextremer Gesinnung und um eine rassistisch motivierte Tat gehandelt hatte, keine Beachtung. Das Gericht deutete den Fall als Schlägerei unter Jugendlichen und sah „keinen Hinweis auf ausländerfeindliche Motive“. Carlos Neu wurde zu sechs Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt. Im Urteil heißt es: „Was den Angeklagten zu seiner Tat veranlasst hat, weiß nur er selbst.“ Nach der Urteilsverkündung protestierten Angehörige und Freund*innen von Ahmet Șarlak im Gerichtssaal. Sie wurden von der Polizei des Saals verwiesen.

    VR (Gedenk)RAUM

    Schüler*innen der Wilhelm-Wagenfeld-Schule haben einen virtuellen Gedenkraum erarbeitet, der am Gedenkpavillon mit Virtual-Reality-Brillen erlebbar ist.

    In den Themen, die in den Gedenkräumen angesprochen werden, spiegeln sich die Auseinandersetzungen der Schüler*innen wieder. Diese reichen von der Kritik an Gesellschaft und Justiz über den Wunsch, die Betrachter*innen zu mahnen bis hin zum Gefühl der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit diesen schrecklichen Ereignissen.

    Über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Ahmet Șarlak hoffen die Schüler*innen, einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben.

    Wir stehen auf einem leeren Kirchplatz in Sulzbach, Saarbrücken. Hier hat das Volksfest stattgefunden, das Schauplatz der Tat wurde. Es gibt nirgends einen Hinweis darauf, was hier am 9. August 2002 geschehen ist. Während wir uns umsehen, drängen sich pulsierenden Streifen ins Bild. Die Streifen verformen sich zu braun-grau-melierten Rechtecken. Synchron bewegen sie sich im gleichen Rhythmus, schießen hoch und runter. Sie umkreisen uns und wachsen zu bedrohlichen Steinsäulen. Plötzlich verschwinden sie schlagartig. Es wird wieder still. Ein Nachhall der Leere legt sich über den Kirchplatz. Ganz so, als wäre hier nichts geschehen.

  • Alberto Adriano

    Alberto Adriano audio-icon Created with Sketch. wurde 1960 in Mosambik geboren. 1980 kam er als Vertragsarbeiter in die damalige DDR. Teile seines Verdienstes schickte er regelmäßig zu seiner Familie in Mosambik. 1990 lernte er seine zukünftige Frau Angelika in Dessau kennen, mit der er drei Kinder hatte. 

    In der Nacht auf den 11. Juni 2000 ging Alberto Adriano auf dem Nachhauseweg von Freunden durch den Dessauer Stadtpark. Dort traf er auf drei angetrunkene Neonazis, die ihn rassistisch beschimpften, zusammenschlugen und, als er auf dem Boden lag, gegen seinen Kopf traten. Nachdem Alberto Adriano durch diese massive Gewalteinwirkung das Bewusstsein verlor, entkleideten die Neonazis ihr hilfloses Opfer und verstreuten seine Kleidung im Park. Nachbar*innen, aufgeschreckt durch den Lärm, alarmierten die Polizei und die Täter wurden festgenommen. Alberto Adriano erlangte sein Bewusstsein nicht wieder – und starb drei Tage später an den Folgen des Angriffs im Krankenhaus.

    Während der Gerichtsverhandlung legten die drei Täter ohne jegliche Gefühlsregung ihre Geständnisse ab. Sie machten deutlich, dass in ihrer Weltsicht alle Menschen, die für sie als „anders“ gelten, kein Recht auf Leben haben. Der einzige volljährige Täter, Enrico Hilprecht, wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Seine Mittäter, Frank Miethbauer und Christian Richter, beide zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt, erhielten eine Haftstrafe von je neun Jahren.

    VR(Gedenk)Raum

    Schüler*innen der Wilhelm-Wagenfeld-Schule haben einen virtuellen Gedenkraum erarbeitet, der am Gedenkpavillon mit Virtual-Reality-Brillen erlebbar ist.

    In den Themen, die in den Gedenkräumen angesprochen werden, spiegeln sich die Auseinandersetzungen der Schüler*innen wieder. Diese reichen von der Kritik an Gesellschaft und Justiz über den Wunsch, die Betrachter*innen zu mahnen bis hin zum Gefühl der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit diesen schrecklichen Ereignissen.

    Über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Alberto Adriano hoffen die Schüler*innen, einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben.

    Wir stehen im Dessauer Stadtpark vor dem Gedenkstein von Alberto Adriano. Eine langsame Überblendung befördert uns in einen neuen Raum mit zwei aufeinander liegenden Ebenen. Im Vordergrund schweben weiss umrahmte Fotografien im Kreis. Die Formate der Bilder sind unterschiedlich. Sobald sie uns auf Augenhöhe begegnen nehmen sie die Maße eines Polaroid-Fotos an.  Durch die stetige Bewegung und den Bildwechsel entsteht das Gefühl inmitten eines Mobiles zu stehen. Die Fotografien lassen auf Momentaufnahmen im Urlaub schliessen. Im Hintergrund befindet sich eine hochaufgelöste Pixelwand. Bei näherem Hinblicken sind Zeitungen zu erkennen. Die Inhalte sind Aufgrund der groben Auflösung aber nicht lesbar. Das Tagesgeschehen löst sich in Pixeln auf.  Die Zeitungen sowie die Fotografien stammen aus Mosambik. Alberto Adriano hat als Vertragsarbeiter in der DDR gearbeitet. Kurz vor seiner Ermordung wollte er am 3. Juli 2000 seine Reise nach Mosambik antreten. Vier Jahre hatte der dreifache Vater dafür gespart, um seine dort lebenden Familienangehörigen zu besuchen. Dazu kam es nicht mehr.

  • Françoise Makodila Landu

    Françoise Makodila Landu audio-icon Created with Sketch. wurde 1964 im Kongo geboren. Von dort flüchtete sie zusammen mit ihrem Mann Jean-Daniel Makodila und ihren fünf Kindern Jean-Daniel (3 Jahre), Legrand (5), Christelle (8), Miya (14) und Christine (17) nach Deutschland. Die Familie wurde in einer Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße untergebracht.

    In der Flüchtlingsunterkunft wurde in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar 1996 Feuer gelegt. Françoise Makodila Landu verständigte gegen 3 Uhr nachts verzweifelt die Polizei. Doch für sie kam jede Hilfe zu spät: Sie starb gemeinsam mit ihren Kindern sowie weiteren vier Personen in dem brennenden Haus. Ihr Mann war zu diesem Zeitpunkt nicht in Lübeck. Viele weitere Mitbewohner*innen wurden durch den Brand verletzt.

    Noch in der Tatnacht nahm die Polizei unmittelbar am Tatort vier als rechtsextrem bekannte Skinheads fest. Trotz Brandspuren an ihren Haaren und widersprüchlicher Aussagen ließ man sie wieder frei. Selbst einem zwei Jahre später vor der Staatsanwaltschaft abgelegten Geständnis wurde kein Glauben geschenkt. Die Ermittlungen hingegen konzentrierten sich vor allem auf einen 21-jährigen Bewohner der Flüchtlingsunterkunft aus dem Libanon, der angeblich nach einem Streit das Haus in Brand gesetzt haben sollte. Das Landgericht Kiel sprach ihn im Herbst 1999 frei. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die rechtsextremen Skinheads wurde jedoch abgelehnt.

    VR(Gedenk)Raum

    Schüler*innen der Wilhelm-Wagenfeld-Schule haben einen virtuellen Gedenkraum erarbeitet, der am Gedenkpavillon mit Virtual-Reality-Brillen erlebbar ist.

    In den Themen, die in den Gedenkräumen angesprochen werden, spiegeln sich die Auseinandersetzungen der Schüler*innen wieder. Diese reichen von der Kritik an Gesellschaft und Justiz über den Wunsch, die Betrachter*innen zu mahnen bis hin zum Gefühl der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit diesen schrecklichen Ereignissen.

    Über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Françoise Makodila Landu hoffen die Schüler*innen, einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben.

    Wir sind in Lübeck an der Hafenstrasse 52, im Industriegebiet. Hier stand einmal ein Haus. Eine Unterkunft für Geflüchtete. Jetzt steht hier ein Gedenkstein. Am Fuße des Steins liegt ein mit Schnee bedeckter Gedenkkranz. Die Örtlichkeit liegt brach. Der Ort ist trist. Der Schnee ist frisch.

    Ein neuer Raum öffnet sich und wir bewegen uns inmitten einer farbenprächtigen Collage unterschiedlicher Bilder und Illustrationen. Wir sehen Orte, Menschen und Fahrzeuge. Alles deutet auf einen Alltag hin. Beim näheren Hingucken wird klar, dass sich Ortschaften überlappen, gegenüberstehen und ineinander verschmelzen. Ein Passagierschiff, das auf Lübecks Hafen hindeuten könnte, findet sich unter demselben Himmel wie der Marktstand aus Kinshasa. Hier treffen die verschiedenen Lebensräume von Françoise Makodila Landu zusammen.

  • Marwa El-Sherbini

    Marwa El-Sherbini audio-icon Created with Sketch. wurde am 7. Oktober 1977 in Ägypten geboren. Sie arbeitete als Pharmazeutin und spielte eine Zeitlang erfolgreich in der ägyptischen Handballnationalmannschaft. 2005 folgte sie ihrem Mann Elwy Ali Okaz nach Deutschland, der für ein Masterstudium in Molekularbiologie nach Bremen gezogen war. Kurz darauf wurde ihr Sohn Mustafa geboren. Aus beruflichen Gründen zog die Familie nach Dresden, wo Marwa El-Sherbini dann als Apothekerin arbeitete.

    Als Marwa El-Sherbini 2008 mit ihrem Sohn auf einen Dresdener Spielplatz ging, wurde sie von einem Rechtsextremen als „Islamistin”, „Terroristin“ und „Schlampe“ beschimpft. Ohne zu zögern zeigte sie ihn bei der Polizei an. Der Angeklagte, Alex Wiens, wurde daraufhin zu einer Geldstrafe verurteilt. Gegen diesen Strafbefehl legte der damals 28-jährige Wiens Einspruch ein. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, zu der Marwa El-Sherbini als Zeugin geladen wurde. Sie war zu diesem Zeitpunkt das zweite Mal schwanger und erschien gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Während der Verhandlung gab der Täter wiederholt abfällige und rassistische Bemerkungen von sich. Als Marwa El-Sherbini nach ihrer Zeugenaussage den Gerichtssaal verlassen wollte, griff er sie an und tötete sie mit 18 Messerstichen. Ihr zur Hilfe eilender Mann wurde mit drei Messerstichen lebensgefährlich verletzt – dies alles vor den Augen des dreijährigen Sohnes.

    Alex Wiens wurde im Jahr 2009 wegen Mord und versuchtem Mord zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Staatsanwaltschaft stufte die Tat als „extrem ausländerfeindlich“ motiviert ein. Marwa El-Sherbinis Leichnam wurde nach Ägypten überführt und einen Tag darauf beigesetzt. Ihre Ermordung sorgte für internationale Aufmerksamkeit.

    VR(Gedenk)Raum

    Schüler*innen der Wilhelm-Wagenfeld-Schule haben einen virtuellen Gedenkraum erarbeitet, der am Gedenkpavillon mit Virtual-Reality-Brillen erlebbar ist.

    In den Themen, die in den Gedenkräumen angesprochen werden, spiegeln sich die Auseinandersetzungen der Schüler*innen wieder. Diese reichen von der Kritik an Gesellschaft und Justiz über den Wunsch, die Betrachte*rinnen zu mahnen bis hin zum Gefühl der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit diesen schrecklichen Ereignissen.

    Über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Marwa El-Sherbini hoffen die Schüler*innen, einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben.

    Wir stehen im leeren Gerichtssaal des Dresdner Landgerichts, in dem Marwa El-Sherbini ermordet wurde. Während wir uns umschauen zersetzt sich der Raum in Einzelteile. Er fällt stückweise auseinander, so lange, Mbis der Gerichtssaal als solcher nicht mehr existiert. Mit dem Zerfall des Raumes bricht der Glaube und die Hoffnung auf Gerechtigkeit komplett zusammen. Mit ihr zerbricht das Sinnbild der Justitia, die „Göttin der Gerechtigkeit“.  Der Schock, dass inmitten einer Verhandlung eine Hauptzeugin und das Opfer der rassistischen Beleidigung durch den Angeklagten ermordet wird, scheint kaum überwindbar.

  • Belaid Baylal

    Belaid Baylal audio-icon Created with Sketch. wurde 1958 in Marokko geboren. In seinem Land kämpfte er für bessere Arbeitsbedingungen. In Folge eines Streiks wurde Belaid Baylal 1980 inhaftiert und gefoltert. Nach seiner Freilassung floh er über Libyen und Algerien nach Deutschland. Hier beantragte er 1991 Asyl.

    Am 8. Mai 1993 besuchte er mit vier Freunden eine Gaststätte in Belzig, wo er in einer Flüchtlingsunterkunft lebte. Später am Abend betraten zwei rechtsextreme Skinheads die Kneipe, die von sich selbst sagten, dass sie „keine Ausländer mögen“. Sie fingen an die kleine Gruppe zu beschimpfen und mit Flaschen zu bewerfen. Drei von ihnen zogen sich daraufhin zurück, Belaid Baylal und ein Freund blieben. Kurz darauf wurden die beiden von den Neonazis angegriffen. Sie stießen Belaid Baylal zu Boden und schlugen und traten ihn in den Magen. Belaid Baylal kam mit schweren inneren Verletzungen ins Krankenhaus, aus dem er erst nach mehreren Wochen mit bleibenden Schäden entlassen wurde. Die nächsten Jahre waren für ihn geprägt durch Zurückgezogenheit, Krankheit und Schmerzen. Er starb sieben Jahre später, am 3. November 2000 im Alter von 42 Jahren, an den Folgen des Angriffs.

    Vor Gericht gaben die Angreifer an, Ausländer hätten sich nicht in deutschen Gaststätten aufzuhalten. Die Täter wurden zu Bewährungsstrafen und Geldbußen verurteilt.

    VR(Gedenk)Raum

    Schüler*innen der Wilhelm-Wagenfeld-Schule haben einen virtuellen Gedenkraum erarbeitet, der am Gedenkpavillon mit Virtual-Reality-Brillen erlebbar ist.

    In den Themen, die in den Gedenkräumen angesprochen werden, spiegeln sich die Auseinandersetzungen der Schüler*innen wieder. Diese reichen von der Kritik an Gesellschaft und Justiz über den Wunsch, die Betrachter*innen zu mahnen bis hin zum Gefühl der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit diesen schrecklichen Ereignissen.

    Über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Belaid Baylal hoffen die Schüler*innen, einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben.

    Wir stehen am Gedenkstein in der Stadt Belzig, der seit dem 4. November 2004 an Belaid Baylal erinnert. Wir haben etwa eine halbe Minute Zeit, um uns umzuschauen. Danach entsteht ein neuer Raum. Wir sitzen auf dem Rücksitz eines fahrenden Autos. Es rauschen verschiedene Stadtbilder an uns vorbei. Am Himmel über den Dächern wachen Friedenstauben. Sie stehen symbolisch für den Gewerkschafter Belaid Belayl. Dessen Lebensaufgabe war es, für ein gerechteres Leben für alle Menschen zu kämpfen. Die Reise im Auto führt von Marokko über Tunesien nach Deutschland. Doch in Deutschland ändert sich der Ausblick. Über dem deutschen Luftraum fliegen keine Friedenstauben mehr. Plötzlich entzieht sich uns die Aussicht. Die Stadt verschwindet im Dunkeln. Alles wird Schwarz. Es ist unklar, ob wir noch fahren oder angekommen sind. Wir stehen allein in der Dunkelheit.

  • Karl-Hans Rohn

    Karl-Hans Rohn audio-icon Created with Sketch. wurde 1939 geboren. Das genaue Geburtsdatum und der Geburtsort konnten leider nicht ermittelt werden. Er lebte in Wuppertal, war nicht verheiratet und arbeitete, bis er seine Arbeit verlor, als Metzger.

    In der Nacht vom 12. auf den 13. November 1992 besuchte Karl-Hans Rohn eine Kneipe in Wuppertal/Unterbarmen und nahm am Tresen neben zwei Männern Platz, die in der mittlerweile verbotenen rechtsextremen Vereinigung „Nationalistische Front“ organisiert waren. Die drei Männer waren die einzigen Gäste. Der Wirt war nicht gut auf Karl-Hans Rohn zu sprechen, da er Schulden in der Kneipe hatte. Der Wirt glaubte, Karl-Hans Rohn sei Jude und begann die gegeneinander  aufzuhetzen. Daraufhin prügelten die beiden Neonazis bald auf Karl-Hans Rohn ein und traten ihn zu Boden. Sie gossen Alkohol über ihn und zündeten ihn an. Aufgrund der Rauchentwicklung löschten die drei das Feuer bevor Karl-Hans Rohn starb, jedoch war zu diesem Zeitpunkt schon klar, dass es für ihn keine Rettung mehr geben würde. Sie schafften ihn in ein Auto und verfrachteten ihn an die holländische Grenze, wo er tags darauf in einem Straßengraben tot aufgefunden wurde.

    Die Täter wurden über die Reifenspuren ermittelt und wegen Mordes zu 8 bis 14 Jahren verurteilt. In der Urteilsbegründung heißt es: „Die Täter sind so mit rechtsradikalem Gedankengut vollgesaugt, dass sie in einem entscheidenden Moment nach rechtsradikalem Muster handelten.“ Der Mord an Karl-Hans Rohn sorgte international für Schlagzeilen.

    VR(Gedenk)Raum

    Schüler*innen der Wilhelm-Wagenfeld-Schule haben einen virtuellen Gedenkraum erarbeitet, der am Gedenkpavillon mit Virtual-Reality-Brillen erlebbar ist.

    In den Themen, die in den Gedenkräumen angesprochen werden, spiegeln sich die Auseinandersetzungen der Schüler*innen wieder. Diese reichen von der Kritik an Gesellschaft und Justiz über den Wunsch, die Betrachter*innen zu mahnen bis hin zum Gefühl der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit diesen schrecklichen Ereignissen.

    Über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Karl-Hans Rohn hoffen die Schüler*innen, einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben.

    Wir stehen auf der Straße. Rechts an der Hausfassade steht die Nummer 31 über einem weißen Türrahmen. Oberhalb der Nummer markiert ein rechteckiger Flecken, dass hier einmal ein Schild hing. Es ist anzunehmen, dass die Tür der Haupteingang des „Laternchen’s“ war, die Gaststätte, die Karl-Hans Rohn am 12. November 1992 in Wuppertal aufsuchte. Sein Besuch in der Kneipe endete tödlich. Weder an der Hausfassade noch auf der Straße ist ein Hinweis zu finden, der an ihn erinnert. Nur der schattige Abdruck des nicht mehr vorhandenen Gaststättenschildes über dem Eingang, steht mahnend als schweigsamer Zeuge über unseren Köpfen. Ein neuer Raum öffnet sich. Einzelne schwarze Striche schießen aus verschiedenen Richtungen über den weißen Hintergrund. Es entsteht ein unregelmäßiges Geflecht aus 53 Strichen. Es handelt sich um ein asymmetrisches Muster, dessen Netzwerk abrupt endet. Karl-Hans Rohn war 53 Jahre alt, als er ermordet wurde.

  • Helmut Sackers

    Helmut Sackers audio-icon Created with Sketch. wurde am 20. April 1940 in Kleve (Nordrhein-Westfalen) geboren. Er arbeitete als Fernfahrer und zog später nach Halberstadt in Sachsen-Anhalt. Sein Umfeld erlebte ihn als einen Menschen, der stets offen seine Meinung vertrat und an Toleranz und Demokratie glaubte.

    Am 29. April 2000 saß Helmut Sackers gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin beim Kaffee zu Hause, als sie durch laute Musik gestört wurden. Helmut Sackers griff zum Telefon, um die Polizei zu alarmieren, da ein Nachbar unüberhörbar verbotene, rechtsextreme Musik abspielte. Als die Polizei eintraf, bat sie den jungen Mann, die Musik leiser zu stellen. An ihrem Inhalt nahmen sie keinen Anstoß – und fuhren wieder ab. Eine Stunde später erstach der Nachbar  den 60-jährigen Helmut Sackers im Hausflur.

    Nach der Festnahme durchsuchte die Polizei seine Wohnung. Dort fanden die Beamten CDs, Videos und Infomaterial, die eindeutig eine Verbindung zur rechtsextremen Szene belegten. Trotz dieser Hinweise wurde die Tat als Streit unter Nachbarn über zu laute Musik bewertet. Es gab zwei Gerichtsverfahren, in denen das Gericht dem Angeklagten Glauben schenkte, obwohl Tathergang und Zeugenaussagen zweifelhaft dargelegt wurden. Schließlich wurde der Angeklagte freigesprochen. Das Urteil sorgte bundesweit für Empörung. Bis heute engagiert sich Helmut Sackers‘ Lebensgefährtin für das Gedenken an ihn. Offiziell zählt Helmut Sackers nicht zu den Opfern rechter Gewalt.

    VR(Gedenk)Raum

    Schüler*innen der Wilhelm-Wagenfeld-Schule haben einen virtuellen Gedenkraum erarbeitet, der am Gedenkpavillon mit Virtual-Reality-Brillen erlebbar ist.

    In den Themen, die in den Gedenkräumen angesprochen werden, spiegeln sich die Auseinandersetzungen der Schüler*innen wieder. Diese reichen von der Kritik an Gesellschaft und Justiz über den Wunsch, die Betrachter*innen zu mahnen bis hin zum Gefühl der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit diesen schrecklichen Ereignissen.

    Über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Helmut Sackers hoffen die Schüler*innen, einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben.

    Ein Treppenhaus in einem Mietshaus. Die Türen und der Aufzug sind geschlossen. Wir stehen in einem neuen Raum. Die Perspektive ändert sich: Zu sehen ist ein illustriertes Luftbild. Wir schauen hinunter auf viele kleine Lichter, mal sind sie gebündelt, mal nicht. Es könnte sich um Landschaften, handeln, deren Grenzen nicht sichtbar sind, um verschiedene bewohnte Orte, deren Lichter von den Straßen oder Häusern nach oben strahlen. Abwechselnd leuchten Begriffe auf wie: „Freundschaft“, „Ehrlichkeit“, „Toleranz“, „Liebe“, „Leben“ und „Zivilcourage“. Sie erinnern an Leuchtreklamen aus LED-Lichtern, die für ein menschliches “zusammen” werben. Regelmäßig bündelt sich das gesamte Bild zu einer schwingenden Welle. Die Stärke liegt in der Bewegung und dem Mut, gemeinsam und solidarisch zu handeln.

  • Dragomir Christinel

    Dragomir Christinel audio-icon Created with Sketch. wurde 1974 in Rumänien geboren. Er floh unter unbekannten Umständen nach Deutschland. Über sein Leben ist nicht viel bekannt bis zum 15. März 1992. An diesem Abend besuchte der damals 18-Jährige Freund*innen in einer Flüchtlingsunterkunft in Saal bei Rostock.

    In der Nacht zuvor waren rumänische Jugendliche aus einer nahegelegenen Diskothek rausgeschmissen worden, nachdem sich andere Gäste über sie „beschwert“ hatten. Vor der Diskothek bedrohte eine Gruppe Jugendlicher aus der Umgebung zwei rumänische Geflüchtete. Einer der Angreifer stellte sich in ihren Fluchtweg und wurde mit einem Messer an der Hüfte verletzt. Die Rumänen wurden bis zur Unterkunft verfolgt und Rachedrohungen nachgerufen.

    Am nächsten Tag versammelten sich etwa 25 Personen., Autos wurden besorgt, später fanden sich darin eine Gaspistole und ein Feuerlöscher. Die Gruppe machte sich auf den Weg zur Flüchtlingsunterkunft mit dem Vorsatz, diese zu überfallen. Dragomir Christinel war einer der ersten, der ihrer Gewalt zum Opfer fiel. Er wurde durch Schläge mit einem stumpfen Gegenstand (laut Presse war es ein Baseballschläger) auf den Kopf getötet. 

    Im Juni 1992 verurteilte das Bezirksgericht Rostock einen 18-Jährigen wegen Körperverletzung mit Todesfolge und schwerem Landfriedensbruch zu einer Jugendstrafe von zweieinhalb Jahren. Zwei weitere Angreifer erhielten Bewährungsstrafen. Die restlichen Täter wurden nicht ermittelt.

    VR(Gedenk)Raum

    Schüler*innen der Wilhelm-Wagenfeld-Schule haben einen virtuellen Gedenkraum erarbeitet, der am Gedenkpavillon mit Virtual-Reality-Brillen erlebbar ist.

    In den Themen, die in den Gedenkräumen angesprochen werden, spiegeln sich die Auseinandersetzungen der Schüler*innen wieder. Diese reichen von der Kritik an Gesellschaft und Justiz über den Wunsch, die Betrachter*innen zu mahnen bis hin zum Gefühl der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit diesen schrecklichen Ereignissen.

    Über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Dragomir Christinel hoffen die Schüler*innen, einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben.

    Wir befinden uns in einer sanitären Anlage, die für mehrere Personen eingerichtet ist.

    Alles deutet auf eine Unterkunft die ihre Besucher*innen als Provisorium dient. Die hängende Wäsche, die wir niemandem zuordnen können, ist ein Indiz dafür, dass der Raum genutzt wird. Ein abrupter Bildwechsel führt uns in einen neuen Raum. Wir stehen vor einer Grafik auf schwarzem Hintergrund, die aus bunten Wellen besteht. Herzschläge sind darauf abgebildet. Die Wellen ähneln dem Abbild eines Elektrokardiogramms. Mit dem Unterschied, dass hier keine Herzströme gemessen werden. Es fließen mehrere pulsierende Herzschläge entgegengerichtet übereinander. Die Kurven schlagen immer weiter hoch und ziehen Kreise. Wir sind inmitten des Geschehens. Bis alles endet. Die Herzschläge versinnbildlichen das Leben von Dragomir Christinel.

  • Mehmet Kubaşık

    Mehmet Kubaşık audio-icon Created with Sketch. wurde am 1. Mai 1966 in der Türkei geboren. Er arbeitete im Landwirtschaftsbetrieb seines Vaters. Gegen den Willen seiner Eltern heiratete er seine Jugendliebe Elif. 1986 kam die Tochter Gamze auf die Welt. 1991 floh die Familie nach Deutschland, da sie als kurdische Alevit*innen politisch verfolgt wurden. Zwei Jahre lang, bis ihr Antrag auf Asyl genehmigt wurde, lebte die Familie Kubaşık in einer Unterkunft für Geflüchtete. Es wurden noch zwei Söhne geboren. 2003 nahm die ganze Familie die deutsche Staatsbürgerschaft an. Bis zu seinem Schlaganfall arbeitete Mehmet Kubaşık als Hilfs- und Bauarbeiter. Anschließend machte er sich mit einem Kiosk in Dortmund selbstständig. Dort arbeitete seine ganze Familie mit.

    Am Mittag des 4. April 2006 wurde Mehmet Kubaşık hinter seinem Kiosktresen erschossen aufgefunden. Die polizeilichen Ermittlungen reduzierten sich zunächst auf das familiäre Umfeld. Da diese Vorwürfe sich als nicht stichhaltig erwiesen, ermittelte die Polizei anschließend gegen kurdische Organisationen. Die Familie Kubaşık und ihr unmittelbares Umfeld wurden über Jahre verdächtigt. Ein rechtsextremer Hintergrund der Tat wurde von der Polizei bis zur Selbstenttarnung der rechtsextremen Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) 2011 nicht in Erwägung gezogen. Der NSU ist verantwortlich für zahlreiche Anschläge, Raubüberfälle und neun rassistische Morde. Mehmet Kubaşık wird als achtes Opfer ihrer Mordserie gezählt.

    Im NSU-Prozess, dem Strafverfahren gegen den NSU, wurden fünf Personen verurteilt. Doch es gibt zahlreiche Hinweise auf Verstrickungen verschiedenster (auch staatlicher) Akteur*innen und auf ein weitreichendes Unterstützer*innennetzwerk. Bis heute ist der NSU-Komplex nicht endgültig aufgeklärt.

    VR(Gedenk)Raum

    Schüler*innen der Wilhelm-Wagenfeld-Schule haben einen virtuellen Gedenkraum erarbeitet, der am Gedenkpavillon mit Virtual-Reality-Brillen erlebbar ist.

    In den Themen, die in den Gedenkräumen angesprochen werden, spiegeln sich die Auseinandersetzungen der Schüler*innen wieder. Diese reichen von der Kritik an Gesellschaft und Justiz über den Wunsch, die Betrachter*innen zu mahnen bis hin zum Gefühl der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit diesen schrecklichen Ereignissen.

    Über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Mehmet Kubaşık hoffen die Schüler*innen, einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben.

    Wir stehen vor der Gedenktafel an der Mallinckrodtstraße in Dortmund, die an Mehmet Kubaşık erinnert. Nach einer Weile legen sich Bildfragmente über die Mallinckrodtstraße. Ein neuer Raum, ein neues Bild entsteht. Wir befinden uns inmitten eines Kioskes und stehen vor gefüllten Regalen., obwohl der Kiosk leer zu sein scheint. Alle Produkte sind schlicht weiß. Die unterschiedlichen Formen und Verpackungen erinnern uns an Gewohntes und Vertrautes. Doch die Abwesenheit der sonst so vielfältigen Farben und Etiketten deuten auf Leerstellen. Plötzlich fliegen bunte Schmetterlinge aus den Regalen. Und der Kiosk, der Mehmet Kubaşıks Lebensmittelpunkt war, blüht für einen kurzen Moment noch einmal auf.

  • Klaus-Peter Beer

    Klaus-Peter Beer audio-icon Created with Sketch. wurde 1947 in Amberg (Bayern) geboren, wo er bis zu seinem 19. Lebensjahr lebte. In dem kleinen Ort mit 30.000 Einwohner*innen konnte er seine Homosexualität nicht offen ausleben. Also beschloss er, sein Glück in einer größeren Stadt zu suchen. Klaus-Peter Beer zog nach Darmstadt und lebte später in Frankfurt, wo er als Taxi- und Busfahrer arbeitete.

    Nach Amberg kehrte er regelmäßig zurück, um seine Eltern zu besuchen. Im September 1995 kam Klaus-Peter Beer wieder einmal nach Amberg, da seine Eltern erkrankt waren. Am 7. September traf er in einer Gastwirtschaft zwei junge Männer mit denen er sich unterhielt und denen er später arglos nach draußen folgte. Beer wusste nicht, dass er es mit zwei extrem gefährlichen Neonazis zu tun hatte. Die beiden Neonazis, Richard Lorenz und Dieter Müller, hatten kurz davor auf einer Skinhead-Veranstaltung angekündigt einen Homosexuellen töten zu wollen. In einem Park verprügelten sie Klaus-Peter Beer brutal und warfen den bewusstlosen Mann in einen Fluss, in dem er ertrank.

    In der Folge brüsteten sich die beiden Täter auf rechtsextremen Veranstaltungen mit der Tat. Es dauerte drei Jahre bis sie wegen Totschlags zu acht und zwölf Jahren verurteilt wurden. Vor Gericht sagten die beiden aus, dass sie dem Opfer einen „Denkzettel verpassen wollten“. Eine Verbindung zum NSU-Terrornetzwerk wird heute von den Ermittlungsbehörden nicht mehr ausgeschlossen. In Amberg rang man lange um das Gedenken an Klaus-Peter Beer. Gedenktafeln wurden entwendet und eine offizielle Beteiligung an Gedenkveranstaltungen ließ Jahre auf sich warten.

    VR(Gedenk)Raum

    Schüler*innen der Wilhelm-Wagenfeld-Schule haben einen virtuellen Gedenkraum erarbeitet, der am Gedenkpavillon mit Virtual-Reality-Brillen erlebbar ist.

    In den Themen, die in den Gedenkräumen angesprochen werden, spiegeln sich die Auseinandersetzungen der Schüler*innen wieder. Diese reichen von der Kritik an Gesellschaft und Justiz über den Wunsch, die Betrachter*innen zu mahnen bis hin zum Gefühl der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit diesen schrecklichen Ereignissen.

    Über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Klaus-Peter Beer hoffen die Schüler*innen, einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben.

    Wir befinden uns in einer Gaststätte. Ein neuer Raum öffnet sich. Ein Stadtpark mitten in der Nacht beleuchtet von Sternen. Die extremen Farben erzeugen eine irritierende Situation. Alles wirkt entfernt, obwohl wir mittendrin stehen.  Eine Lichtung ist zu sehen. Sie wirkt wie ein Nebenschauplatz. Gegenüber steht eine leere Holzbank, die verloren erscheint. Die Stimmung löst trotz der Farben Unbehagen aus. Es sind viele Sterne und einige scheinen gemeinsam, zu zweit und zu dritt. Sie werden Teil der Stille und schaffen mit ihrer Leuchtkraft einen Ort der Abwesenheit.

  • Andreas Oertel

    Andreas Oertel audio-icon Created with Sketch. wurde 1963 geboren und wuchs in Halle (Saale) auf. Nach dem Tod seiner Eltern lebte er in einem betreuten Wohnheim, konnte aber im Alter von 34 Jahren schließlich in eine eigene Wohnung ziehen. Über 10 Jahre arbeitete Andreas Oertel in einer Holzwerkstatt für Behinderte. Menschen, die ihn kannten, beschreiben ihn als freundlich, zurückhaltend und auch etwas leichtgläubig. Seine Leidenschaft galt dem Theater. Er versuchte, keine Vorstellung des „Neuen Theaters“ in Halle zu verpassen. Viele Mitglieder des Ensembles schätzten ihn als treuen Begleiter und Kritiker. Andreas Oertel bekannte sich öffentlich zu seiner Homosexualität.

    Am 21. März 2003 drang eine Gruppe rechtsextremer Personen in Andreas Oertels Wohnung ein und bezichtigte ihn der Kindesmisshandlung. Über zwei Tage lang wurde er wiederholt von unterschiedlichen Personen in seiner Wohnung aufgesucht, misshandelt und ausgeraubt. Andreas Oertel starb in Folge der ihm zugefügten, massiven körperlichen Verletzungen. 

    Die Täter*innen prahlten öffentlich mit ihrer „Bestrafungsaktion“ und wurden festgenommen. Vor Gericht gaben sie an, Andreas Oertel unter anderem wegen seiner Homosexualität bestraft haben zu wollen. Sie wurden wegen Raubes mit Todesfolge und gefährlicher Körperverletzung zu unterschiedlich hohen Haftstrafen verurteilt.

    VR(Gedenk)Raum

    Schüler*innen der Wilhelm-Wagenfeld-Schule haben einen virtuellen Gedenkraum erarbeitet, der am Gedenkpavillon mit Virtual-Reality-Brillen erlebbar ist.

    In den Themen, die in den Gedenkräumen angesprochen werden, spiegeln sich die Auseinandersetzungen der Schüler*innen wieder. Diese reichen von der Kritik an Gesellschaft und Justiz über den Wunsch, die Betrachter*innen zu mahnen bis hin zum Gefühl der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit diesen schrecklichen Ereignissen.

    Über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Andreas Oertel hoffen die Schüler*innen, einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben.

    Wir befinden uns in einem lädierten Treppenhaus. Die Treppe vor uns führt zu einem verschlossenen, roten Bühnenvorhang. Es weist nichts darauf hin, was sich dahinter verbergen könnte. Nach einer Weile fällt ein Lichtkegel auf den roten Vorhang. Der kegelförmige Lichtschein nimmt zu und wird stärker, das Treppenhaus um den Lichtkegel verdunkelt sich. Plötzlich erfahren wir einen Szenenwechsel: Wir stehen auf einer Bühne und sind geblendet. Das Licht scheint uns entgegen. Vor uns steht ein Stuhl. Beim näheren Hinschauen wird klar, dass das Licht nicht auf uns gerichtet ist. Die Beleuchtung gilt dem leeren Stuhl. Stellvertretend für die Schauspieler*innen stehen nun wir, die Betrachtenden, auf der Bühne. Der vom Scheinwerferlicht angestrahlte Stuhl steht für das Fehlen von Andreas Oertel.

  • Alfred Salomon

    Alfred Salomon audio-icon Created with Sketch. wurde 1900 in Berlin geboren. Als junger Mann lebte und arbeitete er in Köln, trat der Gewerkschaft bei und später auch der SPD. In Köln lernte er Katharina Lambertz (Käthi) kennen. Sie heirateten und bekamen vier Kinder. Das Paar wohnte in einer Gegend, die von den Kölner*innen aufgrund des großen Zuspruchs der Bewohner*innen für die KPD „Klein Moskau“ genannt wurde.

    Zwei Tage vor der Reichstagswahl kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der SA und Bewohner*innen des Viertels. Obwohl Alfred Salomon nicht an den Ausschreitungen beteiligt war, wurde er noch in derselben Nacht verhaftet. Er wurde wie viele seiner Nachbarn unter Generalverdacht gestellt, verhört und geschlagen. Erst nach mehreren Tagen kam er wieder frei.

    Nach der Machtübernahme der NSDAP und durch die 1935 in Kraft tretenden „Nürnberger Rassengesetze“ wurde Alfred Salomon als „Halbjude“ eingestuft. Während der Novemberpogrome 1938 wurde sein Vater vor Alfred Salomons Augen von der SA niedergeschlagen und  deportiert. 1943 starb er unter ungeklärten Umständen. Alfred Salomon wurde ebenfalls verschleppt und musste als Zwangsarbeiter im KZ-Außenlager „Dachs IV“ in Osterode täglich 12 Stunden Schwerstarbeit leisten, bei Schwäche gab es Schläge und Tritte. Nach Beendigung des Krieges erfuhr Alfred Salomon vom Tod seiner Frau Käthi und drei seiner Kinder bei einem Bombenangriff.

    Als 92-Jähriger lebte er in einem Seniorenheim in Wülfrath. Seine Mitbewohner beschimpften ihn wiederholt antisemitisch. Alfred Salomon beschwerte sich bei der Heimleitung – jedoch ohne Konsequenz. Im Seniorenheim traf er auf Johann Krohn, ein ehemaliger Oberführer der „Organisation Todt“, bei der Alfred Salomon Zwangsarbeit leisten musste. Beide gerieten in einen Streit, dabei schlug Johann Krohn seinen Widersacher so heftig, dass Alfred Salomon kurz darauf verstarb.

    Das Ermittlungsverfahren gegen den 89-jährigen Johann Krohn wurde eingestellt, ohne dass er nach seiner Vergangenheit befragt wurde.

    VR(Gedenk)Raum

    Schüler*innen der Wilhelm-Wagenfeld-Schule haben einen virtuellen Gedenkraum erarbeitet, der am Gedenkpavillon mit Virtual-Reality-Brillen erlebbar ist.

    In den Themen, die in den Gedenkräumen angesprochen werden, spiegeln sich die Auseinandersetzungen der Schüler*innen wieder. Diese reichen von der Kritik an Gesellschaft und Justiz über den Wunsch, die Betrachter*innen zu mahnen bis hin zum Gefühl der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit diesen schrecklichen Ereignissen.

    Über die Auseinandersetzung mit dem Schicksal von Alfred Salomon hoffen die Schüler*innen, einen würdevollen Rahmen gefunden zu haben.

    Wir stehen in einem leeren Raum mit Tischen und Stühlen, der darauf hinweist, dass sich hier Menschen regelmäßig zum Essen treffen. Ein Ort der Begegnung. Ein neuer Raum öffnet sich. Zu sehen ist ein weißer Flügel, aus dessen Korpus Pflanzen herauswachsen. Alfred Salomon, Shoa-Überlebender, liebte die Musik. Seine Leidenschaft galt dem Klavier. Die Musik verhalf ihm, in eine Welt der Melodien einzutauchen und seine traurigen Erinnerungen für einen Moment zu vergessen. Die Pflanzen versinnbildlichen Klänge, die aus dem Flügel gedeihen und stehen symbolisch für den Kreislauf der Natur, das Aufblühen, Überleben und Weiterwachsen.

Rechte Gewalt in Deutschland ist kein Einzelfall.
Rechte Gewalt in Deutschland hat System.
Rechte Gewalt tötet.

Mindestens 214 Todesopfer rechter Gewalt zählt die Amadeu Antonio Stiftung von 1990 bis 2021. Manche dieser Fälle bewegten die Öffentlichkeit, viele wurden jedoch kaum zur Kenntnis genommen. Vergessen sind die meisten. Von vielen der Toten wurden weder Fotos noch Namen veröffentlicht. Das Projekt Köfte Kosher hat daher zwölf Todesopfer rechtsextremer Gewalt ausgewählt, um an deren Schicksale visuell im öffentlichen Raum zu gedenken. 

Mit Hilfe des Langzeitrechercheprojektes des Tagesspiegel und von Zeit Online (Interaktive Karte: Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland seit der Wiedervereinigung - Politik - Tagesspiegel; Opfer rechter Gewalt: Verdachtsfälle | ZEIT ONLINE), der Ausstellung „Opfer rechter Gewalt“ (Ohne Titel | TODESOPFER RECHTER GEWALT SEIT 1990) sowie der Recherchen der Amadeu Antonio Stiftung (Todesopfer rechter Gewalt) sind Kurztexte, Pochoirs (Streetart) und VR(Gedenk)Räume zu den einzelnen Personen entstanden.

Marwa-El-Sherbini-Platz

Der Gedenkpavillon auf dem Marwa-El-Sherbini-Platz im Bremer Steintorviertel ist ein Kunst- und Jugendprojekt gegen Diskriminierung und rechte Gewalt.

An zwölf Opfer rechtsextremer Gewalt wird hier gedacht. Sie wurden getötet, weil sie nicht in das Weltbild der Täter passten. Sei es wegen ihrer Haltung, ihrer Religion, ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung, einer Behinderung oder weil sie obdachlos waren. Sie stehen stellvertretend für alle Opfer rechter Gewalt in Deutschland.

Seit Beginn des Projektes Köfte Kosher im Jahr 2012 war es uns ein Anliegen, die Opfer rechtsextremer Gewalt sichtbar zu machen. 2018 war es endlich soweit. Der Platz, auf dem der Gedenkpavillon steht, wurde offiziell in Marwa-El-Sherbini-Platz benannt. Marwa El- Sherbini ist eines der Gewaltopfer, an deren Geschichte und Schicksal am Gedenkpavillon gedacht wird. Sie lebte von 2005 bis 2008 in Bremen.

Jährlich findet am 1. Juli die Yortsayt-Gedenkveranstaltung für Marwa El-Sherbini statt.

Yortsayt